Martin Amanshauser

Vom Dichten und vom Morden

Auf den Spuren mittelalterlicher Sagen: West- und Nordisland mit grünen Wiesen, schroffen Felsen, frischen Flüssen. Aber darunter brodelt es!

Die Island-Schlagzeilen sind gerade nicht so toll – weil, wieso soll man ein Land in die EU aufnehmen, das uns diese ärgerlichen Vulkanwölkchen schickt? Der Eyjafjallajökull, fünftgrößter Gletscher der Insel, spuckte Lava und Asche und legte den europäischen Flugverkehr lahm. Reiner Zufall, Pech, Einzelfall? Fest steht, im Land der Sagen, Trolle und Vulkane ist unter der Erde eine Menge los – bei vierzig Vulkanen ist es kein Wunder, wenn einer davon so richtig aktiv wird.

Noch schlimmer für das Image war der Bankencrash des Jahres 2008, als die Icesave-Bank unterging und um ein Haar den Staat mit sich in den Bankrott gerissen hätte. Das führte unfairerweise auch dazu, dass die isländische Bevölkerung jetzt die Schulden ihrer verantwortungslosen Banker übernehmen muss, frei nach dem Motto: „Wir zahlen jetzt für eure Krise.“ Unfreiwillig – denn die „Geschädigten“, naive und geldgierige Anleger in Großbritannien und den Niederlanden, halten sich schadlos, indem die isländischen Steuerzahler ihr Desaster „many many years“ (Zitat des britischen Schatzministers) rückzahlen werden. Dafür winkt der EU-Beitritt, den die traditionell euroskeptischen Isländer inzwischen anstreben. Ihre Fischereigründe werden sie letztlich ebenso wie ihre Wölkchen mit Europa teilen. Gegen dieses Faktum hilft nur noch der nordische Galgenhumor.

„Einige Leute haben in einer Woche Isländisch gelernt – geht ganz leicht, man darf nur nicht nüchtern werden.“ Der trockene Witz prägt das Leben von Arthúr Bollason, dem trink- und geschichtsfesten Autor eines sehr brauchbaren deutschsprachigen Reisebegleiters. Bollasons unheimlicher Anekdotenschatz zeigt, wie stark verwoben Sage und Realität in einem Land sind, dessen touristische Ressourcen den Einheimischen allmählich selbst zu Bewusstsein kommen. „Die Krise führt dazu, dass die Isländer ihr eigenes Land entdecken“, erzählt Bollason, „denn früher flog man einfach im Sommer in wärmere Länder.“

Inzwischen verlor die Krone die Hälfte ihres Werts – und halbierte für Ausländer die Kosten im ehemaligen Hochpreis-Land. „Heute sehen sich die Einheimischen auch einmal ihr eigenes Land an“, erklärt Bollason, der auch vom Dezember als Reisemonat schwärmt, wenn alles stillsteht und selbst im südlich gelegenen Reykjavík nur noch wenige Stunden Helligkeit bleiben. Island, meint der Spezialist, sei eigentlich immer interessant. „Wenn man durch unser Land fährt, findet man alle paar Minuten geschichtsträchtige Orte – wofür man in anderen Ländern Stunden fahren muss.“

Neben Vulkanen und Hochebenen ist Islands Wunder die Sprache. Manche Wörter erheben sich durch überraschende Verständlichkeit („Flaschka“ für Flasche, „Fugl“ für Vogel), andere versinken im Rätselhaften: Problem heißt etwa „Vandamál“, ausgesprochen wie Wander-Maul. Nur wer an der Unregelmäßigkeit Spaß hat, lernt Isländisch. Hier wird alles gebeugt –es gibt sogar einen Plural der Zahl Eins.

Neun Zehntel der Haushalte werden mit thermaler Energie beheizt – in Island stellt sich eher die Frage, wie man das heiße Wasser kalt kriegt. Die Gehsteige von Reykjavík haben selbstverständlich eine Fußbodenheizung – damit der Schnee im Winter nicht liegen bleibt. Wird es schließlich doch wieder hell und warm, dann wundern sich alle. An guten Sommertagen misst man 20 Grad, ab 25 spricht man von „belastend heiß“ und alle stöhnen. „Die Saison hat sich um zwei Monate verlängert, Mai und September sind als Reisemonate dazugekommen“, freut sich Bollason, „dank der Erderwärmung.“ Der Tourismus profitiert als einzige Branche von der Krise. „Viele Restaurants haben in den letzten zwei Jahren unglaubliche Umsatzsteigerungen erzielt, bis zu vierzig Prozent.“

Island ist so verschroben, dass einen wundert, wenn die Autos auf der rechten Seite fahren – Linksverkehr würde viel besser passen. Nebenbei hält das Land auch den Weltrekord an Weltrekorden, denn nichts tun die Isländer lieber als Zahlen zählen und Statistik pflegen. Als der Schriftsteller Halldór Laxness 1955 den Nobelpreis für Literatur erhielt, wurde verlautbart, dass Island nun über die weltweit größte Dichte an Nobelpreisträgern verfüge, nämlich vier Stück pro einer Million Einwohner (bei damals 250.000 Einwohnern). „Wer diese Mathematik begriffen hat, versteht gleich, wieso wir jetzt einen Bankencrash haben!“

Als Egill Skalla-Grímsson – er war damals sieben Jahre alt – beim Eisballspiel gegen einen gleichaltrigen Jungen verlor, zog er Konsequenzen. Er holte eine Axt und schlug seinem Gegner den Schädel ein. Egill, der schon mit drei Jahren auf den Erwachsenentisch gestiegen war, um Verse vorzutragen, war ein frühreifer Dichter und Kämpfer aus dem wilden isländischen 10. Jahrhundert.

Einige Jahre nach dem ersten Mord spielte er mit seinem neuen besten Freund Eisball, als sein Vater vorbeikam und mitspielen wollte. In der ersten Halbzeit erwies sich der Vater als überlegen, doch letztlich verlor er die Partie. Aus Wut tötete der Vater den Freund – und hätte auch Egill erschlagen, wäre nicht dessen Lieblingsmagd dazwischengegangen. Nun richtete sich die väterliche Jähzorn gegen die Magd, er hetzte sie in eine Schlucht und warf ihr einen Felsen nach, wonach sie „nie wieder nach oben kam“. Egill, der seine zwei liebsten Menschen verloren hatte, sprach mit dem Vater kein Wort mehr. Und wurde Islands erster überlieferter Skalde, der Poesie, Muskelkraft und Mordeslust wie niemand sonst vereinte.

Nun könnte man einwenden, okay, das sind die Island-Sagen. Wer heutzutage durch Reykjavík geht, trifft bekanntlich fesche, zivilisierte Leute, die mit ihren Blackberrys und Laptops verwachsen sind und so überhaupt keine agonale Wut entwickeln. Doch trotzdem steht fest, an wenigen Orten mischen sich Vergangenheit, Literatur und Gegenwart in so atemloser Taktung wie auf der größten Vulkaninsel der Welt.

Egill Skalla-Grímsson ist übrigens keine Erfindung, sondern laut dem „Landnahmebuch“, der verlässlichsten mittelalterlichen Quelle, eine historische Person. Island war ab dem 9. Jahrhundert von norwegischen Wikingern besiedelt worden, und nicht zufällig teilten sich ein paar Generationen wilder Recken das Neuland auf. Das Landnahmezentrum im Küstenort Borgarnes, der winzigen Hauptstadt Westislands, zeichnet Egills Epoche nach – wenige Schritte entfernt von der Brücke über Brákarsund, wo sein Vater einst die Magd in den Tod stieß.

Grüne Wiesen, schroffe Felsen und der frische Fluss Öxará bilden die zerklüftete Landschaft, in der ab dem Jahr 930 Recht gesprochen wurde. Das Althing von Thingvellir ist ein mystischer Ort. Nicht zufällig wurde die Republik Island 1944 in dieser Grabenbruchzone ausgerufen, wo die amerikanische und die eurasische Kontinentalplatte auseinanderdriften.

Das frühe Island funktionierte als oligarchisch-frühdemokratisches System, in dem die herrschenden Familien auf einer jährlichen Thingversammlung am Lögberg (Gesetzesfelsen) ihr Recht sprachen. Hier fanden die Siedler Auswege aus ihren endlosen von Blutrache geprägten Fehdekämpfen.

Es gab keinen König. Die Versammlung der thingsteuerpflichtigen Bauern verhängte katalogisierte Geldstrafen, Verbannung oder lebenslängliche Acht, was via Auf- und Abrechnen getöteter Personen, geraubtem Viehs und niedergebrannter Häuser funktionierte. Ein Menschenleben war 20 Kühe wert. Den Urteilsspruch konnte man annehmen oder ablehnen – letzteres bedeutete allerdings den Ausschluss aus der Gemeinschaft. Ab dem 13. Jahrhundert zerbrach das Althing-System, da in Zeiten höherer Mobilität allzu gerne der norwegische König zu Hilfe gerufen wurde. Ein dramatischer Fehler: Es folgten 700 Jahre Fremdherrschaft, zuerst durch Norwegen, später durch Dänemark.

500.000 Schafe stehen 300.000 Menschen gegenüber, erstere unter strikter Geburtenkontrolle. Der Advent ist die Jubelzeit für die Böcke, die den Rest des Jahres in abgezäunten Bereichen leben – im Dezember darf gebalzt werden, damit die Jungen pünktlich im Mai zur Welt kommen, wenn die Wiesen frisch wachsen. Man will ja schließlich keine Babyschafe durch den Winter füttern.

Daneben gibt es noch die 71.000 Pferde mit den hübschen Fransenfrisuren. Ein paar davon stehen im Vatnsdalur-Tal, einer der Naturschönheiten Nordislands, wo die Sage von Ingimundur spielt. Dieser eher defensive Recke ist weniger für seine Morde als für die Gründung einer großen Nachkommenschaft bekannt. Auf der Farm Thingeyrar kann man übernachten und mit den preisgekrönten Islandpferden an den Seen Hóp und Húnavatn entlangreiten. Vielleicht sogar bis zum Hof Bjarg, wo ein anderer Held geboren wurde, Grettir der Starke. Der legendärste Vogelfreie des Mittelalters, der erst im zwanzigsten und letzten Jahr seiner Verbannung von Feinden zur Strecke gebracht wurde war ebenfalls eine historische Figur, und ebenfalls frühreif: Als ihm im Alter von zehn Jahren sein Vater auftrug, Gänse zu hüten, brachte er sie kurzerhand alle um.

Der perfekte isländische Sagenheld muss dreierlei sein: ein Haudegen, ein Trinker, ein Dichter. Und am Ende sollte er durchs Schwert umkommen. Der junge Mann, der beim Eisballspiel seinen Freund umgebracht hatte, Egill Skalla-Grímsson, scheiterte an letzterer Vorgabe – er durchlebte fast ein ganzes Jahrhundert und starb im Jahr 990 an Altersschwäche.

Anreise:

Der Autor flog mit Icelandair von Wien über Frankfurt nach Reykjavík, www.icelandair.de. Man kann auch mit der Smyril-Line über die Färöer-Inseln per Schiff nach Island fahren: www.smyrilline.de

Veranstalter:

Reisen auf den Spuren der Island-Sagas sind bei der Alpinschule Innsbruck, www.asi.at, buchbar; weitere Themenreisen sind in Verbindung mit Island als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2011 in Vorbereitung: ab Herbst 2010 bei DERTOUR, näheres unter www.sagenhaftes-island.is/de.

Der „Verein Sagatrail – Isländischer Geschichtstourismus“ fördert 50 historische Stätten Islands; Vorsitzender Rögnvaldur Gudmundsson, +354 693 2915, info@sagatrail.is, www.sagatrail.is

Geographische Punkte:

Nationalpark Thingvellir mit dem Althing, bei der Reykjanes-Halbinsel.

Landnahmezentrum, Brákarbraut 13-15, 310 Borgarnesi, 74 Kilometer von Reykjavík, www.landnam.is

Thingeyrar, Farm und Reitgut, Blönduós, www.thingeyrar.is

Bjarg, Hof bei Miðfjörður.

Literatur:

Halldór Laxness, Die glücklichen Krieger, Originalversion 1952, deutsche Neuübersetzung im Steidl-Verlag 1991.

Arthur Bollason, Island, Ein Reisebegleiter, insel taschenbuch 2008.

Helmut Lugmayr, Das Althing in Thingvellir, Iceland Review 2002.